Aus der Hinterhand

Judith Genske singt nicht immer. In der Hinterhand hat sie noch Früchte gedankenvoller Momente…

Morgens Käse…

Komisch, immer ist alles gleich und auf einmal wunderst du dich. Zum Beispiel beim Frühstück. Das ist natürlich eine Zeit, zu der ich ohnehin fast alles auf dieser Erde als ein Wunder erlebe. Jetzt könnte man meinen, es ginge um erhabene Gefühle angesichts des neu erstandenen Tages:

der sich ergießende Sonnenaufgang als wundersame Metapher für einen ewig neuen Anfang oder so – bei mir ist es aber eher eine sinnengetrübte morgendliche Grundverfassung in der Art von: ein Wunder, daß ich schon hier sitze.

Und mitten in dieser stieren Stumpfheit begegnet mir unverhofft eine der Paradoxien der uns entgegenstehenden Dinge, die uns für kurze Zeit der Selbstverständlichkeit unseres Umgangs entheben und uns beweisen, daß nichts in unserem Leben ist wie es scheint und wir überall der Ungewißheit ausgesetzt sind. Nämlich das Käsepapier. Und zwar das vom Camembert. Dem normalen runden aus dem Supermarkt. Das ist in einer Weise gefaltet, die ausgefuchster ist als die des Falkplans, mit dem sich alle Reisenden dieser Erde verzweifelt und für immer aussichtslos abmühen. Haben wir es hier mit einem so riesigen Stück Papier zu tun, daß der, der wagt, es auszufalten, es bekanntlich nie im Leben wieder zusammenfalten kann, so ist es dort vielmehr die unfaßbar abgezirkelte Knappheit des Formats, die uns vor unlösbare Probleme stellt.

Denn es ist eine beweisbare Tatsache, daß der Camembert, den ich gekauft habe, vollständig eingepackt war. Kaum beginne ich diese Papierverpackung aber unvorsichtigerweise zu öffnen, ist die Patentfaltung umgehend verschwunden, hat sich aufgelöst, das Papier ist mit einem Mal zu klein für den Käse, und das, obwohl dieser durch den frohen Hunger aller morgenwachen Mitbewohner meines glücklichen Lebens ja nicht mehr, sondern deutlich weniger geworden ist. Der nur noch halb vorhandene Käse ist zu groß für die Verpackung, die vorher das ganze Stück nachweislich umschlossen hat!

Und das sind natürlich die entscheidenden Erlebnisse, wenn es um psychologisch-religiöse Standortbestimmung geht. Wozu führt dieser Einbruch des Irrationalen in meine angenehm geheizte Lebenswelt? Bin ich der Typ, dem der Schreck so in die Glieder fährt, daß ein Lähmungsgefühl irgendwo zwischen handfester Depression und burnout mit unerklärlichen Angstzuständen die notwendige Folge darstellt? Oder fühle ich mich zu positivistisch inspirierter Klärung angestachelt und beantrage Forschungsgelder mindestens für ein Graduiertenkolleg an einer unserer neuen deutschen Eliteuniversitäten? Oder führt mich dies doch endlich zur Akzeptanz des Unerklärlichen, das größer ist als ich und Plan und Antwort für mich bereithält, sofern ich zu glauben bereit bin? War es das Käsepapier, das den Suhrkamp-Verlag bewogen hat, endlich eine Bibliothek der Weltreligionen herauszugeben? Und könnte man durch großzügigere Käsepapierformate religiösen Fanatismus lindern oder vermeiden helfen?

An diesen Punkt gelangt, gibt es nur noch einen Erkenntnisanker: Wenn einem so die Gesamtlage der Welt auf den Tisch gelegt wird, hilft nur der Rückzug ins Bett, nach dem Schlafen sieht bestimmt alles besser aus…

Markierung fehlt…

Komisch, immer ist alles gleich und auf einmal wunderst du dich. Und gar nicht nur über die großen Dinge, wenn vielleicht eine Gewitterwolke plötzlich haargenau so aussieht wie dein Nachbar oder die Magenverstimmung von nächster Woche schon heute in den Tarotkarten zu lesen ist, sondern sogar einfach so beim Fahren mitten auf der Autobahn. Nämlich zum Beispiel über ein Schild.

Damit meine ich noch nicht mal sowas wie „Danke für Ihr Verständnis“ oder „Wir bauen für Sie“, wo man anfängt, die Amerikaner zu verstehen, die für alle Fälle immer ihre private Gewehrsammlung im Auto haben, falls der seelische Druck im Berufsverkehr mal ein bißchen Überhand nimmt. Nein, was mich aus der Bahn geworfen hat, war die Mitteilung: „Markierung fehlt“.

Nicht, daß das in dem Moment sachlich falsch war, die Fahrbahn war tatsächlich glatt und grau und völlig frei von einteilenden Bemalungen. Aber für wen ist das? Für Blinde? Und können Blinde Schilder lesen? Vielleicht wäre da ein akustisches Signal angebrachter, wenn neuerdings ohne mein Wissen der Führerschein für Blinde eingeführt worden ist.

Oder habe ich den Sinn von Verkehrsschildern immer mißverstanden und das sind eigentlich nur Bestätigungen für etwas Selbstverständliches, also etwa „klar können Sie hier auf der Überholspur im Gewerbegebiet wegen der spielenden Kinder nur 30 fahren, das haben Sie schon selbst ganz richtig eingestuft, aber wir stellen einfach für das harmonische Konsensgefühl noch mal ein Schild vor den Blitzer“ oder „in dieser ausgebauten Innenstadtparkbucht hätten Sie ja angesichts der zahlreichen Alternativen niemals Ihr Auto abgestellt und deshalb bestätigen wir Ihre richtige Einschätzung noch mit diesem kleinen Parkverbotszeichen“.

Oder befürchtet man, daß der Autofahrer seine Spur ohne Bemalung von jetzt auf gleich für dreizehn Meter vierundsiebzig breit hält und anfängt, kreuz und quer zu fahren, und da möchte man sich wegen der versicherungsrechtlichen Konsequenzen natürlich als Behörde vor jeglicher Verantwortung für die unausbleibliche Massenkarambolage schützen. Dabei würde ein deutscher Autofahrer niemals auch die allerunkenntlichste Spur verlassen, außer sein Wagen zwingt ihn dazu, zum Beispiel wegen der Fliehkraft bei 280.

Irgendwie kann das alles nicht sein und mich beginnt während des Fahrens ganz langsam das Gefühl zu beschleichen, daß dieses Schild gar nichts mit der international berühmten Malkunst der deutschen Straßenbaubehörden zu tun hat, sondern von einer höheren Macht in nur scheinbarer Koinzidenz hier plaziert worden ist, nämlich ganz allein und ausschließlich für mich: Markierung fehlt…

Bodenloses

Veröffentlicht in der Designzeitschrift ff. Erinnerung und zitiert von Fabian Elsässer im Deutschlandfunk (Hörprobe am Ende des Artikels)

Komisch, immer ist alles gleich und auf einmal erinnerst du dich. Und was ist mit den Erinnerungsgegenständen, und damit meine ich natürlich die Dinge, die wir zur Erinnerung aufbewahren? Eins ist auf jeden Fall sicher: du findest sie nie im Wohnzimmer. Hier können sie niemals sein, denn Dinge, mit denen wir uns umgeben, leben mit uns, sie haben außer einer Geschichte auch eine Gegenwart und können so Tag für Tag Zeuge und Mittäter neuer Erlebnissen sein, an die sie dann wieder erinnern können.

Nicht so das Erinnerungsstück. Es ist wertvoll, weil es uns zu versichern scheint, daß eine Erinnerung nicht verloren gehen kann. In ihm scheinen uns Geschichten und Personen geborgen und gesichert. Nur darauf beschränkt sich sein Wert. Einen lebendigen Wert soll es, darf es nicht mehr haben, sonst wäre die Erinnerung gefährdet, das ist seine einmalige Kostbarkeit, deshalb kommt es ins Schächtelchen, das aufgrund seines Niemalsbenutztwerdens immer tiefer hinabsinkt auf den Boden eines Schrankes beispielsweise oder eben gleich in den Keller. Hier häufen sich mit der Zeit Kostbarkeiten solcher Art, je mehr Vergangenheit, desto voller der Keller; solange aber noch ein Anteil Lebendigkeit in unserem Leben wirkt – unmöglich, diese wachsende Fundgrube aufzuräumen, denn wer wird wirklich seine Zeit so rückwärtsgewandt verbringen wollen?

Das tun wir nur im Angesicht der Katastrophe. Bis dahin lagern die Schätze auf dem Boden unseres krosigen Innenlebens, unserer unaufgeräumten Herkunft und chaotischen Geschichte, scheinbar jederzeit bereit, sicht- und fühlbar das große Erlebnis, den geliebten Anderen und natürlich vor allem uns selbst als die, die wir waren, heraufzubeschwören und wiederzugewinnen.
Im Ernstfall erweist sich das entsprechende Stück jedoch stets als unauffindbar – und umso besser! Denn schön und wohlriechend ist es ohnehin nur dort, wo sich auch die Erinnerung selbst allgemein im besten Zustand befindet, nämlich im Kopf; die Wirklichkeit meines Kellers hingegen spuckt es angeschlagen wieder aus, zerbrochen, stockfleckig, angelaufen oder mindestens in einem Maße vergilbt, das uns mehr sagt über die Länge der Zeit, die seither vergangen ist, als über die Intensität unserer damaligen Gefühle, mehr Verlust als Lebendigkeit bezeugt und in uns mehr Trauer als Freude hervorruft.
Oh Süße der Melancholie, die beides zugleich ersehnt: Vergegenwärtigung und Verlust. Aber nein! So viel wird nicht zugestanden! Denn was ist gar mit dem schlimmsten Fall, wenn sich das Erinnerungsstück beim Wiedersehen als ganz anders erweist als erinnert, wenn die strahlenden Schönheitsidole auf meinem allerbesten Kinderbild beispielsweise aussehen wie quasi fliegende Käfer mit horizontalen Eiern als Köpfen oder der erste Ring meiner ersten Liebe ein klein wenig billiger wirkt als er mir seinerzeit erschien? Was ist dann wahr? Die schäbige Abwertung oder die erinnerte Glorie?

Es bleibt dabei: der Erinnerungsgegenstand ist das, was er ist, und das ist eben – ein Ding – als Bedeutungsträger immer eine Enttäuschung, Tand, Zeug, Kram. Daher rufe der Weise dem Narren zu: Wer Plunder wegwirft, wird Kostbarkeiten gewinnen! Bewahrt und gebunden allerdings in nichts mehr oder weniger als diesem demenzgefährdeten, weitgereisten Ich und seinem Gehirnkeller, der manches sicher und vieles unsicher bewahrt, vieles verliert, aber überraschenderweise sogar manchmal etwas wiederfindet, niemals wahllos ist und deshalb als Chef meiner nie zu Ende interpretierten Geschichte bei allen Verlusten unendlich reich. Wie verlockend! Und wie tröstlich! Nur eine ganz kleine Hürde gilt es zu nehmen und das ist unser ganz kleines bißchen Angst vor dem Verschwinden. Denn im Ernst: wer will schon auf sich selbst angewiesen sein?

Deutschlandfunk Interview

Interview von Fabian Elsässer mit der Herausgeberin von ff. Julia Meer im Deutschlandfunk

Liebgewordene Rituale

Komisch, immer ist alles gleich und auf einmal gefällt es dir nicht mehr. Obwohl man von Ritualen ja heute sehr viel hält. Kinder brauchen sie, so sagt man, und da sind die Erwachsenen eigentlich auch nicht anders, sie möchten sich selbst beruhigen und Haltepunkte finden im unsicheren Fahrwasser des Lebens.

Nur leider ist nicht jede Wiederholung gleich ein Ritual. Wir sagen zwar alle gern mal „morgens brauch ich meinen Kaffee“ oder „nach dem Essen rauch ich mir eine“ und solche lieb gewordenen Gewohnheiten geben dem Alltag sicher etwas mehr Struktur als sich vor dem Fernseher zu x-beliebiger Tageszeit die aufgewärmten Dosenravioli von gestern reinzupfeifen, deshalb sind sie aber nicht unmittelbar gleich sinnstiftend wie – sagen wir mal – Weihnachten.

Wobei ich dann schon auch mal zeitgeistgemäß nachfragen darf, was mir persönlich so ein althergebrachtes Ritual eigentlich überhaupt so sagt. Denn wir halten nicht nur viel von Ritualen, sondern mindestens genauso viel von einer superpersönlichen Lebensgestaltung, vor allem geistig, also geistig-spirituell, wo ich selbst ganz aus dem Bauch heraus mal ganz alleine nachdenken darf, was zu den wunderbarsten ganzheitlichen Weltbildern führt, wenn dir z.B. die tollsten Katholiken alle Chakras erläutern und dabei die Kobra exerzieren.

Das hat was Schönes, weil es ist irgendwo geerdet, mittig, stimmig und dabei erfrischend undogmatisch. Die zentrale Zauberformel „für mich“ (wie in: „für mich ist Jesus irgendwo auch ne Frau, das ist ja alles nur symbolisch“) macht allerdings leider bei näherem Hinsehen aus völligem Blödsinn keinen heiligen Gral und aus dem läppischsten Mist keine Faustische Erkenntnis.

Also hätte ich vielleicht lieber gar nicht erst anfangen sollen, mich mit nicht voll gerechtfertigten Wiederholungen einzuengen, auch nicht in Texten, auch nicht in Kolumnen, auch nicht bei den Anfangssätzen von Kolumnen. Denn es ist zwar wahr, daß immer alles gleich ist und es ist nur allzu wahr, daß ich mich immer mal wieder plötzlich wundere, aber es könnte auch alles anders anfangen, fast so schön wie bei neu.de und gerade wenn es nach einem lauen Winter im April zu schneien anfängt und vor allem als Nichtraucher! Aber dann ist irgendwie immer alles gleich und auf einmal… Komisch…

Überraschung

Komisch, immer ist alles gleich und auf einmal überraschst du dich. Selbst. Manchmal kann man das. Aber kleiner Tipp: nicht so gut funktioniert es mit Pralinen oder den schönen Nelken von der Supermarktkasse. Viel besser gelingt es z.B. mit schlimmem Fehlverhalten, etwa wenn sich ungeahnte negative Wesenszüge in ungezügelter Weise Bahn brechen. Das hat allerdings auch seine beruhigenden Anteile, denn wer möchte sich selbst schon gern für so mies und dumm halten, daß jede positive Regung gleich eine gelungene Selbstüberraschung ist?

Bei mir jedenfall ist es meist so etwas wie stumpfe Begriffsstutzigkeit, mit der ich mich selbst leicht aus der Fassung bringen kann. Besonders schlimm wird’s, wenn ich mich – völlig zu Unrecht – in dem Wahn immenser Geschicklichkeit wiege.

Zum Beispiel neulich, als ich bei einem Musikfest einen Raum mit laufendem Programm betrat und dann leider gleich in der Tür einen der ganz wenigen Menschen traf, die ich bitte niemals und an keinem einzigen Ort zu treffen wünsche. Geschickte Lösung, sich flugs linker Hand so halb neben-hinter einem ganzen Haufen Leuten zu verkriechen. Bis die dann plötzlich alle anfingen zu singen und ich gewärtigen mußte, daß ich schon die ganze Zeit in meinem Mantel so halb neben-hinter dem Chor stand. Aua.

Oder kürzlich, als ich mich im stumpfen Tran des Lebensmitteleinkaufs an den Zeitschriften vorbeischleppte und beim Lesen von „Das große Jahreshoroskop“ spontan dachte „von diesem oder vom nächsten Jahr?“ Aber vielleicht ist auch das gar nicht so falsch und ich überrasche mich selbst einfach mal mit einem großen Jahreshoroskop für mein vergangenes Jahr, komplett mit den passend dazu erfundenen Sternen sowie einer auswertenden Analyse. Das wäre dann zwar garantiert wesentlich deprimierender als so ein althergebrachtes Zukunftshoroskop, dafür würde es aber wenigstens mal so richtig stimmen…

Jul 22, 2014 | Posted by | Kommentare deaktiviert für Aus der Hinterhand
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